Heimatfront - der Untergang der heilen Welt - Deutschland im Ersten Weltkrieg by Kellerhoff Sven Felix

Heimatfront - der Untergang der heilen Welt - Deutschland im Ersten Weltkrieg by Kellerhoff Sven Felix

Autor:Kellerhoff, Sven Felix [Kellerhoff, Sven Felix]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-04-26T04:00:00+00:00


RÜBENWINTER

HILFLOS IST, WER EINE KATASTROPHE KOMMEN SIEHT UND NICHTS TUN KANN. Die Lebensmittelversorgung eines Landes ist normalerweise gut planbar: Man kennt ungefähr den Bedarf der Bevölkerung und weiß, welche Ernte die Bauern gewöhnlich einbringen. Natürlich gibt es immer Abweichungen, etwa wegen schlechten Wetters. Aber im Prinzip können Regierungen abschätzen, ob die voraussichtliche Produktion genügen wird oder ob zugekauft werden muss. Anfang 1916 war in Deutschland jedoch nur eines klar: Es würde das gesamte Jahr hindurch auf keinen Fall genügend Nahrung geben. Obwohl große Teile der schlechten Ernte des Vorjahres beschlagnahmt worden waren, leerten sich die Getreide- und Kartoffellager bereits im Frühjahr bedenklich; zusätzliche Reserven aber gab es nicht, und die britische Seeblockade unterband jeden nennenswerten Import nach Mitteleuropa. In Berlin und anderen Großstädten hatte es bereits Hungerkrawalle gegeben und Plünderungen in Geschäften, die wegen Preistreiberei verschrien waren.

»Das Scheingebäude ausreichender, wenn auch knapper Nahrungsmittel, das man namentlich mit Rücksicht auf die Stimmung des feindlichen Auslandes errichtet hatte, stand vor dem Zusammenbruch«, hielt die Weltkriegschronik der Berliner Stadtverwaltung rückblickend für Anfang 1916 fest: »Ja, noch viel schlimmer, die Ernährung der Bevölkerung selbst war aufs Ernsthafteste gefährdet.«352 Daran änderten auch die zahlreichen neuen Institutionen nichts, die in der Hauptstadt und andernorts eingerichtet worden waren, um die Nahrungsverteilung zu organisieren. So gab es die Zentral-Einkaufsgesellschaft mit zahlreichen spezialisierten Unterorganisationen; der Kriegsausschuss der deutschen Obstverarbeitungsindustrie etwa sollte dafür sorgen, einen größeren Teil der Obsternte über Monate haltbar zu machen. Die Reichsfleischstelle, angesiedelt beim Reichskanzler, verantwortete nicht nur die Fleischversorgung von Heer und Marine, sondern beaufsichtigte auch die Fleischpolitik der Kommunen, die sich untereinander keine Konkurrenz machen sollten. Die Reichsgetreidestelle lenkte zentral den Aufkauf von Brotgetreide und subventionierte die Endkundenpreise; die Reichskartoffelstelle übernahm die allerdings nicht allzu großen Kartoffelimporte und verteilte sie an die Kommunen, die regional nicht genügend Nachschub hatten aufkaufen können. Der Kriegsausschuss für Öle und Fette musste die bis August 1914 überwiegend importierten Pflanzenfette durch Produkte der einheimischen Landwirtschaft ersetzen, etwa durch Kerne aller Art, aber auch durch Bucheckern, die gepresst wurden. Die Reichszuckerstelle hatte das Monopol im offiziellen Zuckerhandel, die Reichsfuttermittelstelle organisierte die Versorgung der Viehhalter mit Hafer, Gerste und Kraftfutter aus Küchenabfällen, für die spezielle Sammelwagen durch die Straßen fuhren. Auch Tabak, Kaffee und Tee, oft freilich nur Ersatzstoffe dieser, wurden von speziellen Ausschüssen und Einkaufsgesellschaften bewirtschaftet. Im Februar 1916 kam eine Zentralstelle für den Gemüseanbau in Kleingärten hinzu – ein weiteres Feld, das dringend der Regelung bedurfte. Koordiniert wurden alle Versorgungsausschüsse und Einkaufsgesellschaften von einer Abteilung im Reichsamt des Innern, doch viel mehr, als den Mangel zu verwalten, konnten die Beamten nicht tun.

Angesichts dieser Fülle von neuen administrativen Institutionen konnte es nicht erstaunen, dass die Verteilung der Mangelware Nahrung nicht besser, sondern immer schlechter wurde. Theodor Wolff machte sich einmal das Vergnügen, alle bestehenden Kriegsgesellschaften und »Durcheinanderwirtschaftsämter« im Berliner Tageblatt aufzuzählen, die für die Beschaffung und Verteilung von Stroh, Hafer und Gerste bis zu Saft, Sauerkohl und Gemüse zuständig waren. Der liberale Chefredakteur kam zu dem ironischen Schluss: »Man wird dann, vor diesem grandiosen Bilde, begreifen, warum uns die Marmelade fehlt.



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